Mein Vorlesetag im Kindergarten

Nach über 20 Jahren habe ich es endlich wieder in den Kindergarten geschafft! Eine atemberaubende, erfüllende und zugleich ernüchternde Erfahrung.

Ahmad Hachicho, Recruitment & Marketing Manager bei Teach For Austria

„Einige unserer Zieleinrichtungen haben einen Kinderanteil von über 95 % mit nicht-deutscher Muttersprache.” – dieser Satz fällt jedes Mal, wenn ich im Rahmen meiner Tätigkeit als Recruiter und Marketer Teach For Austrias unsere Arbeit Interessent*innen erkläre. Somit sollte mir dieser Fakt, den ich mit vollster Überzeugung als Experte in dieser Thematik vermittle, inzwischen keine Überraschungen mehr bescheren. Falsch gedacht …

Über den Autor

Ahmad Hachicho ist Recruitment & Marketing Manager bei Teach For Austria. Er ist selbst mehrsprachig aufgewachsen und hatte zu Beginn Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Nach seinem Bachelor in Wirtschaftswissenschaften strebt er den Master in Psychosoziale Beratung an. Neben seiner Anstellung ist er Trainer für Entrepreneurship, Pitching und Leadership.

Kindergarten als Bildungseinrichtung?

Es ist Mittwoch früh und ich sitze in der wieder einmal etwas überfüllten U-Bahn. Heute fahre ich nicht ins Büro – sondern in den Kindergarten! Man möge meinen, ich gehe mit den Kindern „nur” spielen und die Zeit totschlagen – diesen Eindruck haben viele Erwachsene vom Kindergarten. Wie falsch wir mit dieser Annahme oftmals liegen, ist uns nicht bewusst. Das liegt vermutlich daran, dass der Kindergarten in Österreich im gesellschaftlichen Diskurs keine offizielle Bildungseinrichtung ist, sondern eher als Kinderaufbewahrungsstätte angesehen wird. Das ist jedoch eine Diskussion für ein anderes Mal.

„Die Arbeit im Kindergarten wird in der öffentlichen Wahrnehmung oft mit „Nur spielen” und Kinderaufbewahrungsstätte gleichgesetzt. Wie falsch dieses Denken ist, ist oft nicht bewusst.“

Mission: Mehrsprachigkeit fördern

Meine Mission am heutigen Vorlesetag ist es, Mehrsprachigkeit zu fördern. Wie ich das mache? Ich lese Bildergeschichten auf Deutsch und auf Arabisch zugleich – eine hilfreiche Fähigkeit, wie ich feststellen konnte. Ich bin natürlich bestens gewappnet. Dadurch, dass ich selbst Deutsch erst später gelernt habe, konnte ich mich in meinen sehr jungen Jahren (bis 4), dank meiner Eltern, auf Arabisch konzentrieren. Die Bücher, die mir meine Mutter mitgegeben hat und meine 10-jährige Schwester, die am liebsten mitgekommen wäre, mit ausgesucht hat, sind meine Geheimwaffe für heute. Und egal wie viel Erfahrung ich mit Kindern habe, Kind ist nicht gleich Kind und das durfte ich beim Betreten der Kindergartengruppe mit unserer Teach For Austria Fellow Shirin erneut lernen.

„Jedes Kind ist einzigartig und hat es verdient, dass es in seiner Individualität gesehen und gefördert wird.“

Wie geht man als betriebsfremde Person auf die Kindergartenkinder zu?

Kaum bin ich im Raum und visiere die Kinder an, kommen sie auf mich zu und ergreifen die Initiative. Mit meiner Erwartung, das Gespräch jetzt führen zu müssen, liege ich natürlich auch falsch. Die Offenheit, Lebensfreude und Unvoreingenommenheit dieser Kinder haben mich hinterfragen lassen, wer in den geführten Dialogen und Gruppengesprächen die kompetentere Person ist. Das trifft jedoch nur auf eine Handvoll der Kinder zu. Ein kleiner Blick durch den Raum zeigt mir, dass einige Kinder sich nicht trauen mit mir zu reden. Und nachdem ich auf einige zugehe, wird mir klar, dass sie mit mir verbal auf Deutsch kein Gespräch führen können. Wie beispielsweise bei Amir*, der nach einigen Minuten langsam beginnt, mir seine Lieblingsstofftiere einzeln zu zeigen, dabei aber kein einziges Wort darüber verliert.

„Durch ihre unvoreingenommene Haltung, Lebensfreude und Offenheit empfinde ich die Kinder im Dialog als sehr kompetent.“

Vorlesen ist wichtig und bildet – in allen Sprachen.

Es dauert nicht lange, bis ich mit den Kleingruppen im Bewegungsraum – wie eine Mini-Version eines Turnsaals – lande. Shirin, als pädagogische Fachkraft, ist jedenfalls mit dabei und gibt mir einiges an Sicherheit, die ich in dem Moment tatsächlich gebraucht habe. In allen drei Durchgängen des Vorlesens sitzen Kinder, die mich groß anschauen, wenn ich auf Arabisch vorlese – zum Einen, weil sie es nicht verstehen und zum Anderen, weil die Kinder noch nicht realisiert haben, dass ich gerade ihre Sprache [Arabisch] spreche. Meine Unsicherheit kommt davon, dass mich alle Kinder ratlos (vermutlich überrascht?) anschauen. Keine zehn Minuten später geben sie mir ein beruhigendes Zeichen. Die zu Beginn schüchternen Mädchen und Jungs beginnen im Bewegungsraum herumzutoben und mit mir Gespräche zu führen –  primär auf Arabisch.

Ich bin hin- und hergerissen zwischen Gesprächen, die ich auf Arabisch führe: Amir* wird plötzlich der aktivste Junge in der Gruppe und hört nicht auf zu reden. Yasmin* erzählt mir, wie schlimm ihr Bruder doch ist und schüttelt ganz stolz ihren Kopf. Sie kommt nächstes Jahr in die Schule. Ganz groß ist sie schon. Auch Zeyneb* kommt nächstes Jahr in die Schule und erklärt mir, wie sehr sie Pferde und Kaninchen liebt.

… und Gesprächen, die auf Deutsch stattfinden: Amelie* zeigt mir, wie sarkastisch und cool sie sein kann. Linus* erzählt mir stolz über Steinzeittiere und erklärt mir den Unterschied zwischen einem Steinzeit-Elefanten und einem Mammut.

Bildungswege entscheiden sich früh

Bei meinem nächsten Gedanken beginnt mein Herz zu schmerzen. So glücklich sie alle in diesem Moment wirken, so düster die Realität von ungleichen Startbedingungen im Hintergrund. Yasmin* und Zeyneb* kommen nächstes Jahr in die Schule. Shirin berichtet mir im Nachhinein: „Die zwei Mädels haben heute nach dem Vorlesen das erste Mal miteinander gesprochen, obwohl sie seit September gemeinsam in der Gruppe sind! Ist dir bewusst, was für einen Unterschied [das] für die beiden macht?”

Jetzt schon.

Amelie* und Linus* hingegen haben noch ein ganzes Jahr vor sich, bevor es mit der Schule losgeht. Der Unterschied in den Kompetenzen ist unvorstellbar und das werde ich mit der Einschränkung bei der Länge dieses Beitrages nicht vermitteln können. Ich blicke mit immer weniger Verständnis auf ein System, welches Defizite aufweist, die das rasche Lern- und Auffassungsvermögen von Kindern in diesem Alter nahezu nichtig macht.

„Alle Kinder kommen mit den gleichen Bedingungen auf die Welt, aber nicht alle bekommen in unserem System die gleichen Chancen – und das macht mich traurig.“

Der Kindergarten bereitet die Kinder nicht nur auf die Schule vor, sondern aufs Leben

So erfüllend die Erfahrung für mich ist, umso frustrierter fühle ich mich, nicht mehr für diese Kinder sorgen, einen größeren Beitrag für sie leisten oder allgemein für sie da sein zu können. Im Zuge meiner Arbeit erzähle ich Interessent*innen, dass Fellows und pädagogische Teams im Kindergarten den Kindern zu Kompetenzen verhelfen, die sie schulfähig machen. Nach diesem Vormittag kann ich für mich sagen, dass es weit darüber hinausgeht. Durch die Zusammenarbeit mit den Fellows entdecken die Kinder ihre Stärken und Schwächen und eignen sich Kompetenzen an, die sie bereit für das Leben machen.

* Namen geändert

— Februar 2024