Warum wir aufgehört haben „Brennpunktschulen“ zu sagen
„Brennpunktschulen“ sind in aller Munde. Wir lesen davon in Zeitungen, stoßen darauf in Büchern oder sehen Fernsehsendungen dazu. Wir hören Expert:innen, wie sie darüber diskutieren. Es ist ein Sammelbegriff, der in der Mitte des Bildungsdiskurses angekommen ist. Aber was und vor allem wen meinen wir damit? Und was bedeutet so ein Begriff eigentlich für die, die jeden Tag in einer sogenannten „Brennpunktschule“ ein- und ausgehen, sei es als Lehrer:in, Schüler:in oder gar als Schulleiter:in? Etwas genauer hinzuschauen, kann uns helfen, den sprachlichen (und in der Folge dann auch den physischen) Karren aus dem Dreck zu ziehen.
Der Begriff „sozialer Brennpunkt“ von dem sich die Bezeichnung „Brennpunktschulen“ ableitet, kommt aus dem Deutschen Städtetag der späten 1970er-Jahre und bezeichnet ein Wohngebiet oder einen Stadtteil, in dem zu sozialer Benachteiligung führende Faktoren wie Armut, Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich oft auftreten. Per se nichts Verwerfliches und eine Beschreibung, die definitiv auf viele Schulen – vor allem in Österreichs Städten – zutrifft. Aber – und dieses „ABER“ ist ein großes: Der Kontext in dem der Begriff „Brennpunktschulen“ heute fällt, ist selten eine lösungsorientierte Frage nach sozialer Ungleichheit und Chancengerechtigkeit für Kinder und Jugendliche, die schlechte Startbedingungen haben. Es sind Assoziationen von Gewalt, einer gespaltenen Gesellschaft, religiösem Fanatismus – hoffnungslose Orte, Orte an denen eigentlich keiner sein will. Trotzdem gehen zehntausende Menschen täglich „dorthin“ – als Schüler:in, als Lehrer:in, als Direktor:in.
Können wir das OBWOHL wir an dieser Schule sind?
Die Auswirkungen davon können in der Tat verheerend sein. Denn was die Gesellschaft von Kindern und Lehrer:innen an solchen Orten erwartet, hat natürlich einen Einfluss auf ihren Selbstwert, ihre Ziele und das Gefühl dazu zu gehören. Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir immer eine Geschichte aus meiner eigenen Zeit als Lehrer an einer Neuen Mittelschule im 10. Bezirk in Wien ein: Wir hatten eine Führungspersönlichkeit aus der Wirtschaft zu uns in die Klasse eingeladen, die als Vorbild den Kindern eine Inspiration dafür sein sollte, was auch in ihren Leben alles möglich ist, wenn sie fleißig arbeiten, lernen, mutig handeln und Verantwortung für ihre eigenen Wünsche und ihr eigenes Leben übernehmen. Karim*, einer meiner herausforderndsten Schüler, der durch seine ziemlich bewegte persönliche und familiäre Geschichte oft auch ein Ventil im Klassenzimmer suchte, war fasziniert. Da vorne stand ein „Chef“, der über sein Leben berichtete und auch aus Fleisch und Blut zu sein schien. Aufgewühlt und unruhig, bemühte er sich gute Fragen zu stellen. Er wollte den „Chef“ beeindrucken. Im Laufe der Stunde erwähnte unser Gast, dass viele „Chefs“ auch vorher eine Hauptschule gemacht und sich dann über die Lehre zum großen beruflichen Erfolg gearbeitet hatten. Mit großen Augen und spürbarer Ungeduld riss Karim* die Hand empor.
„Aber… aber… heißt das, dass wir das auch schaffen können, dass wir auch einmal Chef werden können, obwohl wir an dieser Schule sind!?“ brach es aus ihm ungläubig und zugleich hoffnungsvoll heraus.
Noch Wochen danach, musste ich über diese Frage nachdenken. An welcher Schule denken die Kinder, dass sie sind? Und wer vermittelt ihnen das? Meine Annahme war, dass ihnen das niemand jemals direkt sagen würde – wie kommt es dann aber, dass sie selbst die Überzeugung entwickeln an einer „schlechten Schule“ zu sein, wie sie es auf meine Nachfrage später bezeichneten?
Es brennt?
„Brennpunktschulen“, „Problemschulen“ – hinter diesen Wortgerüsten steckt vor allem eines: die Kinder, die an diese Schulen gehen. Um hier bewusst bei Stereotypen zu bleiben: Es sind nicht die Annas, Pauls und Leonhards dieser Welt, deren Eltern Akademiker:innen sind, die zuhause Deutsch sprechen.
Es sind die Karims, die Markos und Jaquelines, deren Eltern maximal Pflichtschule abgeschlossen haben und, wenn überhaupt, Niedriglohnjobs machen.
Und genau das ist es, was hinter diesem Begriff steckt: Stereotype. Wir sprechen nicht konstruktiv über die Bewältigung der eigentlichen Herausforderung, nämlich, dass Kinder deren Eltern wenig Geld und Bildung haben, auch unverhältnismäßig schlechtere Bildungschancen haben. Ohne Frage nach dem „Warum“ generieren wir Bilder und Zuschreibungen für diese Kinder.
Sich selbsterfüllende Prophezeiung
Worüber wir aber zumindest nachdenken sollten, bevor wir von solchen Zuschreibungen geleitet handeln, ist die Macht der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen – das, was ich erwarte wahrzunehmen, wird alleine durch diese Erwartung viel wahrscheinlicher eintreten. Wenn Eltern also glauben, dass ihre Kinder auf einer Brennpunktschule landen, wie denken sie dann womöglich über die Leistungsfähigkeit ihrer eigenen Kinder? Ist es verwunderlich, dass sich Eltern, die tatsächlich an das Potenzial ihrer Kinder glauben, so stark dafür einsetzen, dass ihre Kinder eben genau nicht an „solche Schulen“ kommen? Ist es verwunderlich, dass Lehrer:innen, die dort unterrichten, regelmäßig gefragt werden „Und das tust du dir wirklich an?“ und manche von ihnen später sogar meinen „Unsere Kinder verstehen das sowieso nicht“? Wie selbstsicher wird man an einer „solchen Schule“ als Schulleiter:in notwendige Veränderungsmaßnahmen vorantreiben oder im Kollegium für eine vertrauensvolle Kultur eintreten können?
Sprache schafft Realität
Sprache steuert und fokussiert jedenfalls unsere Wahrnehmung. Mir liegt es aber absolut fern, Sprachpolizei spielen zu wollen – jeder hat das Recht auf freie Rede und soll unbedingt auch davon Gebrauch machen! Uns gegenseitig vorzuschreiben, was politisch korrekt gesagt oder getan werden soll, trägt ebenso wenig zur Problemlösung bei, wie überhaupt nicht darüber nachzudenken, was Sprache in der Welt bewegt.
Nichtsdestotrotz oder auch gerade deshalb denke ich, dass wir den Menschen, die sich täglich an Schulen mit derartigen Herausforderungen um die Zukunft unserer Gesellschaft bemühen, etwas schuldig sind: Dass wir ihnen unser Vertrauen schenken, dass wir sie stark machen, anstatt sie zu schwächen, und dass wir sie befähigen, aus der Opferrolle herauszutreten und Verantwortung für die Herausforderungen um sie herum übernehmen zu können! Darum hören wir jedenfalls auf von „Brennpunktschulen“ zu sprechen.
Und was sage ich jetzt statt „Brennpunktschulen“?
Ich empfehle ein paar Varianten:
- Schulen mit besonderen Herausforderungen/herausfordernde Schulen: Etwas umständlicher, aber jedenfalls treffend und deutlich.
- Indexschulen: Angelehnt an den Chancen-Index, der soziale Belastung von Schulstandorten beschreibt; jedenfalls weniger stigmatisierend als Brennpunkt. Darüber hinaus zeigt es in die Richtung einer möglichen indexbasierten Mittelzuweisung – besonders geforderte Standorte würden in diesem Modell mehr Ressourcen bekommen.
- Turnaround Schools: So werden im englischsprachigen Raum Schulen mit besonderen Herausforderungen genannt, die „gedreht“ wurden bzw. werden sollen und oft dann zu sehr erfolgreichen Schulen werden.
* Name geändert
— August 2024