Was sagen Schulnoten über Talente und Begabungen?

Katharina Werner war TFA Fellow 2018 in Oberösterreich. 2024 veröffentlichte sie ihr Buch „Gemma Bildung“ mit 50 Hacks um das österreichische Schulsystem zu einem der besten und fairsten der Welt zu machen. Als Bildungsaktivistin und Mama eines Schulkindes liegen der Teilzeitalleinerzieherin Chancenfairness und die individuelle Förderung unserer Kinder besonders am Herzen.

In einer großen österreichischen Tageszeitung werden im Sommer all jene Kinder abgebildet, die ausschließlich die Note “sehr gut” in ihrem Zeugnis aufweisen. Sieht man sich die Kinder an, dann sind das Lisas und Lenas, Noahs und Martins. Alis, Fatemas, Arijans und Jasnas kommen nicht vor. Nun stellt sich die Frage: Sind die Talente und Begabungen in unserer Bevölkerung wirklich so ungleich verteilt? Oder: Was sagen Noten überhaupt über die Talente und Begabungen eines Kindes aus?

Der Vergabe von Noten liegt die Idee zu Grunde, dass man mit ihnen Leistung sichtbar machen, Kinder über Schulen hinweg vergleichen und Dritten (der Wirtschaft) Auskunft über erlangte Kompetenzen geben kann (Allokationsfunktion von Schule). Tatsache ist jedoch, dass Noten und Kompetenzen oft wenig miteinander zu tun haben (vgl. Pant 2020: S.35), Noten aufgrund verschiedener Gründe und Effekte nicht objektiv sind (vgl. Holmeier 2013; Schwaighofer, Heene, Bühner 2019) und, wie die oben genannte Beobachtung belegt, oft von dritten Faktoren (sozioökonomischer Hintergrund) abhängig sind. Schließlich verstecken sich hinter Noten auch noch Zuschreibungen an das Geschlecht: Gute Schulnoten werden bei Mädchen als Zeichen für Anstrengung interpretiert, bei Jungen hingegen als Zeichen für Intelligenz und Talent (vgl. Kessels 2022). Bei Jungen spiegelt sich in Benotungen häufig auch eine Verhaltenskomponente wider. Und nicht selten bekommen gerade hochbegabte Kinder schlechte Noten, nicht nur aus Langeweile oder Unterforderung, sondern aufgrund fehlender Lernstrategien (vgl. Dönges 2021).

Zur Person

Katharina Werner studierte Kommunikations- und Politikwissenschaften und war 2018 - 2020 TFA Fellow an einer Mittelschule in Oberösterreich. 2021 bis 2024 war sie Abgeordnete im österreichischen Nationalrat. 2024 veröffentlichte sie ihr Buch "Gemma Bildung".

"Sind es nicht andere Kompetenzen als das akademische Fachwissen, die angesichts rasanter technologischer Entwicklungen bedeutender werden?"

Katharina Werner, TFA Alumna

Und dann gibt es noch den Unterschied zwischen den Fächern: Welche Lehrkraft traut sich, einem Kind in Kunst, Musik oder Werken eine schlechtere Note als ein Befriedigend zu geben? Geschweige denn ein Nicht genügend? Wie aussagekräftig sind diese Zahlen? Und: Sind es nicht andere Kompetenzen als das akademische Fachwissen, die angesichts rasanter technologischer Entwicklungen bedeutender werden? Wie sollten wir diese in Zukunft erfassen?

Wie kommen wir nun raus aus diesem Dilemma, Talente und Begabungen unabhängig vom sozioökonomischen Hintergrund und dem Geschlecht von Kindern sichtbar zu machen und der Allokationsfunktion, die an das Bildungssystem gestellt wird, trotzdem gerecht zu werden?

"Wenn wir Exzellenz wollen, müssen wir daran arbeiten, Stärken zu stärken und nicht viel Energie darauf verschwenden, Schwächen auszugleichen"

Katharina Werner, TFA Alumna

Zuallererst braucht es einen Mindshift, der auch von den politisch konservativen Kräften mitgetragen werden muss: Verabschieden wir uns von der Vorstellung, dass Noten etwas über Talente, Begabungen und Kompetenzen aussagen, dass Kinder nur etwas leisten, wenn sie dafür eine Note bekommen oder dass Noten eine effiziente Form des Feedbacks darstellen und uns dabei helfen Kinder differenziert zu fördern – jene am unteren Ende der Normalverteilung und jene am oberen Ende. Und: Verabschieden wir uns endlich von der Vorstellung, dass jedes Kind alles können muss. Wenn wir Exzellenz wollen, müssen wir daran arbeiten, Stärken zu stärken und nicht viel Energie darauf verschwenden, Schwächen auszugleichen.

Im PISA-Vorbildland Finnland gibt es bis zum Alter von 15 keine Notenpflicht. Stattdessen wird das Lernen konsequent durch verschiedene Feedbackmethoden sichtbar gemacht (vgl. Hasel 2023), was auch jenen Kindern zu Gute kommt, die als hochbegabt gelten. Und trauen wir uns zu träumen: Etwa von einem Talentscout an jeder Schule (vgl. Werner 2024), der/die mit einem geschulten Blick für Begabung die Einzigartigkeit von jedem Kind sieht und von früherer Diagnostik und individueller Förderung, die das teure Sitzenbleiben obsolet machen, wie etwa OECD-Bildungsexperte Andreas Schleicher fordert (vgl. Kroisleitner 2025).

 

Dieser Artikel erschien auf xlnttlnt.net

LITERATUR:

Dönges, J. (2021): Warum manche trotz hohen IQs schlechte Noten bekommen. In: Spektrum; online abrufbar: https://www.spektrum.de/news/warum-manche-trotz-hohem-iq-schlechte-noten-bekommen/1930918 .

Hasel, V. F. (2023): Das krisenfeste Kind. Lernen für die Welt von morgen. Ort: Kein & Aber.

Holmeier, M. (2013): Leistungsbeurteilung im Zentralabitur. Wiesbaden: Springer VS.

Kessels, U. (2022): Welche Rolle spielen Geschlechterstereotype in der Schule? In: Campus Schulmanagement; online abrufbar: https://www.campus-schulmanagement.de/magazin/geschlechterstereotype-in-der-schule .

Kroisleitner, O. (2025): OECD-Vergleich: Österreicher können schlechter lesen, Kinder bleiben öfter sitzen. In: Der Standard; online abrufbar: https://www.derstandard.at/story/3000000286825/oecd-vergleich-oesterreicher-koeschlechter-kinder-bleiben-oefter-sitzen?ref=niewidget .

Pant, H.A. (2020): Notengebung, Leistungsprinzip und Bildungsgerechtigkeit. In: Beutel, S.-I./Pant, H.A. (2020): Lernen ohne Noten. Alternative Konzepte der Leistungsbeurteilung. Stuttgart: W. Kohlhammer.

Schwaighofer, M./Heene, M./Bühner, M. (2019): Grundlagen und Kriterien der Diagnostik. In: Urhahne, D./Dresel, M./Fischer, F. (Hrsg.): Psychologie für den Lehrberuf (S.471-491): Berlin: Springer.

Werner, K. (2024): Gemma Bildung. 80 Hacks für ein besseres Bildungssystem. Wien: Edition Platin.

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